Suche nach Zuversicht
Entre nous, Annette Hug!
Annette, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Material gesucht, nachgedacht und notiert habe ich an verschiedensten Orten: In der Kartause Ittingen, bei Frauenfeld. Vier Wochen in Hongkong, wo ich vor allem mit philippinischen Hausangestellten gesprochen habe. Was ich da erlebt hatte, wurde mir aber erst so richtig zugänglich, als ich zwei Monate in Shanghai verbringen konnte. Geschrieben habe ich vor allem in Zürich und in einer Hütte im Jura.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Das finde ich gerade heraus. Die Reaktionen auf den Text sind sehr unterschiedlich: Ein Text über Erinnerung im Kollektiv? Über die Zukunft der Menschheit? Die Gefahren, die einem Tiefenlager für Atommüll drohen? Die Geschichte einer kleinen Gruppe von Leuten, die im mittleren Alter nochmals ernst machen mit einem Projekt und sich darin verheddern? Eine lyrische Suche nach Zuversicht?
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
In erster Linie treibt mich die Sprache an, jenseits von Diskursen. Ich habe oft das Gefühl, die Lebendigkeit und Geschichtlichkeit von Worten zu verteidigen – gegen das Abschleifen und Wiederholen von Begriffen, Codes und Jargon. Deshalb zieht es mich zurzeit zur Lyrik. Ich übersetzte Gedichte aus der philippinischen Sprache Tagalog ins Deutsche.
Die Frage nach dem Platz von Europa in der Welt treibt mich um. Dieser Platz verändert sich ja drastisch, allerdings finden ganz unterschiedliche Bewegungen gleichzeitig statt. Die Fluchtbewegungen übers Mittelmeer lassen Europa noch immer als eine Art »place to be« erscheinen, während sich in Ostasien ganz neue Zentren etablieren und die Bedeutung europäischer und US-amerikanischer Kultur abnimmt. Sie verschwindet überhaupt nicht, wird aber Teil einer neuen Vielstimmigkeit, auch neuer Kombinationen. Vorkriegsgedröhn und autoritäre Regierungen sind beängstigend, ich bin aber von einem schlecht begründeten Optimismus getragen: In Manila, Schanghai und Seoul habe ich unglaublich kluge, interessierte, zähe junge Leute kennengelernt – mit klaren Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Da möchte ich dranbleiben.
Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Sie haben sich im dritten Roman, »Wilhelm Tell in Manila«, stärker herauskristallisiert. Wenn die Welt, wie sie der Kolonialismus geprägt hat, umgestaltet wird, und Europa nicht mehr das Zentrum ist: Wie blicken wir in Europa dann in die Welt? Wie verstehen wir uns selbst?
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Trotz den zum Teil erschreckenden Themen hat mir das Schreiben von »Tiefenlager« grosses Vergnügen bereitet. Es war eine Möglichkeit, zu lernen und zu spielen.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Ich wurde schon gefragt, was denn nun meine eigentliche Meinung zur Lagerung der radioaktiven Abfälle sei. Da konnte ich nicht klar antworten. Ich führte das Gespräch zwischen den Figuren meines Romans fort, und die sind sich nicht immer einig. An den Solothurner Literaturtagen habe ich realisiert, dass ich weniger klare Vorstellungen habe als auch schon, worüber ich sprechen möchte und worüber nicht – ob Leute eher auf einen inhaltlichen Aspekt oder die sprachliche Ebene anspringen. Es ist eine Versuchsanordnung, die ich vorlege, und mich interessiert einfach, was LeserInnen damit machen.
Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Das müssten, glaub' ich, andere tun. Mich interessieren im Moment meine nächsten Texte …
Annette Hug, »Tiefenlager«, Roman,
Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2021, geb., 220 Seiten.