Grenzen zu überschreiten

Entre nous, Ulrike Ulrich!

Ulrike, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Ich habe einen grossen Teil des Buchs im «Foxcroft & Ginger» an der Mile End Road im East End von London geschrieben. Mit der Hand. Ich schreibe seit einigen Jahren immer zuerst mit der Hand, seit London mit einem Füllfederhalter, den ich bei einem Fotowettbewerb gewonnen habe, in dem es um Orte ging, an denen man schreibt. Ich habe morgens mit der Hand geschrieben und nachmittags abgetippt. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass ich das Buch, das so sehr in Zürich verortet ist, endlich beginnen konnte, als ich ein halbes Jahr in einer anderen Stadt gelebt habe. Und dass diese Stadt London war, wo «Mrs Dalloway» spielt, das Buch, an das ich meinen Roman angelehnt habe, hat vielleicht auch geholfen.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Ich mag den Einschub in eurer Frage: «deiner Meinung nach». Denn tatsächlich gibt es ja viele verschiedene Meinungen, wovon ein Buch handelt. Und die Meinung der Autorin ist nur eine davon – und nicht mal jeden Tag gleich. Heute würde ich sagen: Meiner Meinung nach geht es um Projektionen, um Vorurteile, Bilder, die jede und jeder sich macht, von anderen und von sich selbst. Wie oft wir uns irren. Wie wichtig es ist, zu kommunizieren. Um die Konsequenzen von Handeln und Nichthandeln. Und darum, wen wir ein-, wen wir ausschliessen, wenn wir Wir sagen. Und um Liebe geht es meiner Meinung nach auch.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Mich interessieren Machtverhältnisse. Wie Machtverhältnisse Beziehungen beeinflussen. Mich interessiert die Frage, wie sie sich verändern lassen, aus der Sicht der Person mit weniger Macht und aus der Sicht der Person mit mehr Macht. Wie Machtmissbrauch zu verhindern ist. Was Ohnmacht bedeutet. Und was es bedeutet, sich selbst zu ermächtigen. Ich schreibe seit längerem an einem Autorinnen*-Alphabet, je zwei Autorinnen* pro Buchstabe, Autorinnen, die mich geprägt haben, die hinter und neben mir stehen, und auch Autorinnen*, die ich jetzt erst finde, die ich aufsuche, um meinen Blick zu erweitern. Und es interessiert mich, wie unterschiedlich das Geschlecht, die Zuweisung, die Rolle «Frau» und «schreibende Frau» ausgefüllt werden können. Und auch hier der Versucht, die Machtverhältnisse zu verstehen, innerhalb derer das geschieht.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Das sind alles keine neuen Themen. Seit ich schreibe, kreist mein Schreiben um ähnliche Fragen. Um Deutungshoheit, um Macht, die sich durch und in Sprache manifestiert, um Identität und Zugehörigkeit, aber eben auch um Befreiung von Zuschreibungen. Viele meiner Figuren versuchen sich zu befreien, Grenzen zu überschreiten, die ihnen gesetzt werden, die sie selbst für unüberschreitbar gehalten haben. Ich glaube, auch darum geht es mir immer, um die Erweiterung des Handlungsspielraums. Und das Respektieren der Handlungsspielräume von anderen.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Glücklich, auch ein bisschen wehmütig. Diese Monate in London gehören zu meinen besten Schreibzeiten überhaupt. Als ich alles zusammen hatte, recherchiert hatte, als es mir gelungen war, eine Form zu finden und die Figuren dazu, als ich beginnen konnte. Und als dann das Schreiben, Erfinden, Gestalten so gut ging. Das hat mich mit grosser Freude erfüllt. Beim Schreiben, und ich glaube besonders beim Schreiben von Geschichten, ist man ja in gewisser Weise «in Charge». Es fühlt sich wie das Gegenteil von Ausgeliefertsein an.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buches?
Bevor ich im Februar 2016 mit dem eigentlichen Schreiben begonnen habe, habe ich mir vorgestellt, dass der Text Einfluss haben könnte. Ich habe mir vorgestellt, wie Menschen das Buch lesen und ihre Meinung zur Asylgesetzgebung ändern, wie sie empört sind, dass Länder, in denen Homosexualität unter Strafe steht, als sichere Herkunftsländer eingestuft werden, dass Leser*innen sich Gedanken machen darüber, was es bedeutet, von einem Tag auf den anderen das Land verlassen zu müssen, als «illegal» zu gelten. Ich habe mir vorgestellt, dass sich Menschen wiedererkennen, dass sie die Machtverhältnisse hinterfragen und ihre Rolle darin. Das war vor dem Schreiben, dem Entstehen der eigentlichen Geschichte.
Mir hat einmal nach einer Lesung eine Frau gesagt, die Geschichte, die ich vorgelesen habe, hätte ihren Blick verändert – und sie würde daraufhin jetzt auch ihr Handeln ändern. Das ist schon einige Jahre her, aber es hat mich sehr berührt. Vielleicht weil ich das selbst in Büchern suche, weil ich mir das wünsche und auch immer wieder erfahre: Dass mich ein Text verändert, wenn auch vielleicht nur im Kleinen und nicht einmal so, wie sich die Autorin das vorgestellt hat. Aber auf eine Weise, die ich als erweiternd empfinde. Und ja, das wäre toll. Wenn ich so eine Rückmeldung auch zu diesem Buch bekäme.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Ich habe mit Erstaunen vor einigen Monaten festgestellt, dass «Während wir feiern» im Grunde genommen der Roman ist zu einem Gedicht, das ich vor über 20 Jahren geschrieben habe. Es heisst «Wer sind denn wir». Ich habe es in Österreich geschrieben, nachdem die FPÖ mit Haider an die Macht kam. Und eine Schweizer Fassung 2007 nach den Parlamentswahlen und den berüchtigten «Schäfchen-Plakaten» Es endet mit den Zeilen: wir waren niemals wer, das macht es uns auch leichter. und sind doch besser als die meisten. wer sind denn unsre väter mütter, länder sprachen? und warum sind wir nie genug, die wir nicht sind?
Es ist auch mein erster grosser, vielleicht mein erster «richtiger» Roman, nachdem ich mit «fern bleiben» versucht habe, die Regeln des Romans zu unterwandern, und mit «Hinter den Augen» einen inneren Monolog mit dem Untertitel «Eine Untersuchung» geschrieben hab. Mit «Während wir feiern» habe ich zum ersten Mal einen so vielstimmigen, personenreichen Roman geschrieben, aus mir heraus eine Welt mit so vielen verschiedenen Figuren geschaffen. Das war ein grosser Schritt. Und vielleicht auch die Vorbereitung dafür, dass ich jetzt (in den verschiedenen Alphabetprojekten) autobiografisch schreiben kann.


Ulrike Ulrich, «Während wir feiern»,
Roman, Berlin Verlag, Berlin 2020, geb., 272 Seiten.

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